Impuls zur Inklusion

Mit ihrem Schatz an pädagogischen Möglichkeiten, die aus den Quellen der Menschenkunde und der 100-jährigen Praxis resultieren, öffnet sich die Waldorfpädagogik allen Kindern, unabhängig von Begabungen, Herkünften etc. – und unabhängig von besonderen Beeinträchtigungen oder „Behinderungen“. 

So gibt es heute im waldorfpädagogischen Raum ein Spektrum von sehr verschiedenen Schulen, an denen Kinder mit Behinderungen unterrichtet werden. Neben inklusiv arbeitenden Schulen steht eine Vielzahl von Heilpädagogischen Waldorfschulen, in denen sich die Schulkonzeption als Ganzes an das Sosein der jeweiligen Kinder anpasst. Manche von ihnen spezialisieren sich auf die Beschulung bestimmter „Förderschwerpunkte“ (nach der Terminologie der Bundesländer etwa „Geistige Entwicklung“, „Emotionale und soziale Entwicklung“ usw.); andere Schulen sehen gerade in einer größeren Vielfalt der Schülerschaft produktive Möglichkeiten und öffnen sich für mehrere Förderschwerpunkte.

Heilpädagogik

In der Heilpädagogik geht es darum, Schüler:innen mit einem besonderen Förderbedarf eine ihnen gemäße Form des Lernens zu ermöglichen, die in kleinen Gruppen und in ihrem Tempo stattfindet. So kann die heilsame Beziehung zwischen der Lehrerin oder dem Lehrer und jedem einzelnen Kind noch stärker ihre Wirkung entfalten.

Gemeinsam ist allen Heilpädagogischen Schulen die Begrenzung ihrer Klassengrößen auf meist etwa 12 bis maximal 15 Kinder. Eine vertraute Lehrkraft führt die Klasse über viele Jahre hin. Die Wertschätzung einer für die Heranwachsenden überschaubaren und lebbaren Klassengemeinschaft und Schulgemeinschaft beruht auf dem Erfahrungswissen um die Bedeutung menschlicher Bindungen im Erziehungsgeschehen. Rudolf Steiner sprach – seiner Zeit weit voraus – von einem „Pädagogischen Gesetz“, das gerade in der heilpädagogischen Arbeit zentral wichtig ist: weit „wirksamer“ als die Intentionen und Methoden der Lehrkraft sind die Persönlichkeit und Beziehung zum Kind.

Heilpädagogische Waldorfschulen

Die Heilpädagogischen Waldorfschulen wollen diesem Geschehen Raum geben. Hier werden die Kinder und Jugendlichen nach dem gleichen, an der Kindesentwicklung abgelesenen thematischen Lehrplan unterrichtet wie ihre Altersgenossen an den „großen“ Waldorfschulen. Die Themen müssen jedoch in intensivierter und individualisierter Form lebendig gemacht werden. Er müsse für die Kinder „die Berge berger, die Flüsse flüsser machen“ – so fasste etwa Karl Schubert, der von Steiner berufene erste heilpädagogische Waldorflehrer, seine Methode zusammen. Einem Kind mit dem Förderbedarf "geistige Entwicklung" muss das römische Rechtssystem oder die Entstehung des Faltengebirges anders nahegebracht werden als einem erziehungsschwierigen Kind. Besondere Phantasie der Lehrkraft ist gefragt, um den Stoff auch für Schülerinnen und Schüler mit begrenzten sprachlichen und intellektuellen Möglichkeiten plastisch und begeisternd nahe zu bringen.

Unnormal gibt es nicht

Schon im „Heilpädagogischen Kurs“ stellte Rudolf Steiner 1924 klar, dass es keinen Sinn macht, „über die Normalität oder Abnormalität des kindlichen Seelenlebens oder menschlichen Seelenlebens überhaupt zu reden“. Denn in jedem Menschen sitzt „irgendwo in einer Ecke eine sogenannte Unnormalität“. Zu dieser Zeit entsprachen die etablierten Vorstellungen von Behinderung dem medizinischen Paradigma. Danach wurde Behinderung als medizinischer „Defekt“ verstanden, den es zu beheben gelte. Steiner sah dagegen in allen Menschen lediglich polare Kräfte wirken, die unterschiedlich verstärkt sein können. Dadurch kann es umweltbedingt oder auch innerhalb des seelisch-leiblichen Organismus des Menschen zu Beeinträchtigungen kommen. Damit beginnt für die Lehrkraft die Möglichkeit, zu verstehen und zu helfen. Ein Unterricht, der mit Blick und Einfühlung für die verschiedenen Schülerinnen und Schüler innerlich künstlerisch ausgestaltet wird, hat therapeutische Wirkung. Gleichzeitig entsteht durch die Überschaubarkeit der Klassengröße ein tragendes Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl.

Bewährtes Konzept

Heilpädagogische Waldorfschulen bleiben diesem bewährten Konzept treu und wehren sich gegen das Schlagwort von der „Schonraumfalle“. Besondere Schulen für besondere Kinder widersprechen nicht dem Menschenrecht auf Bildung und Teilhabe. Im Gegenteil: Die Arbeit der Heilpädagogischen Waldorfschulen verwirklicht auch die menschenrechtlichen Intentionen der UN-Konvention, insbesondere Artikel 24, der allen Kindern und Jugendlichen Bildung und damit soziale Teilhabe nach ihren jeweiligen Voraussetzungen ermöglichen will.

Die Heilpädagogischen Waldorfschulen in Deutschland sind überwiegend entweder Mitglied im Bund der Freien Waldorfschulen oder im Anthropoi Bundesverband bzw. Mitglied in beiden Verbänden.

Inklusion

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat deren gesellschaftliche Teilhabe in allen Staaten der Erde auf die Tagesordnung gesetzt. Im März 2009 ist sie nach der Ratifizierung auch in Deutschland in Kraft getreten. Doch was genau ist Inklusion und warum ist sie notwendig?

Was ist Inklusion

Zunächst einmal ist Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Vision. Allen Menschen soll der Zugang zu den selben gesellschaftlichen Räumen möglich werden. Die Idee der Inklusion beinhaltet daher sehr weitreichende gesellschafts- und sozialpolitische Implikationen. Denn die Art und Weise, wie gesellschaftlich auf Behinderung geblickt wird, ist für Menschen mit Behinderungen von entscheidender Bedeutung. Stand früher eine Betrachtung im Vordergrund, die Behinderung als „Defekt“ ansah, der nach Möglichkeit durch „Reparatur“ oder Therapie zu beseitigen war, so hat sich der Blick in den vergangenen Jahren radikal verändert. Behinderung wird nun zunehmend als Soseins-Form, als individuelle Variation des Menschseins gesehen. Folgerichtig fragt man danach, welchen Beitrag zur Vielfalt der Gesellschaft Menschen mit Behinderungen durch ihre je individuellen Lebenserfahrungen und ihr Welterleben leisten können. Dieser Beitrag findet zunehmend Wertschätzung, denn die Menschheit wäre ärmer ohne ihn!

Inklusion und Schule

In Artikel 24 der UN-Konvention werden Prinzipien für Teilhabe, Selbstbestimmung und Inklusion für den schulischen Bereich definiert. Die schulische Inklusion geht von der Besonderheit und den individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes aus und dem erklärten Ziel, Schülerinnen und Schüler nicht vom Besuch der allgemeinen Schule auszuschließen („Persons with disabilities are not excluded from the general education system, Artikel 24, 2.a.“). Die schulische Inklusion stellt sowohl einen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe als auch im deutschen Regelschulsystem dar. Sie erhebt den Anspruch, eine Antwort auf die komplette Vielfalt aller Kinder zu sein. Und sie tritt ein für das Recht aller Schüler und Schülerinnen, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen und ihrer ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft miteinander und voneinander zu lernen.

Wie Inklusion im deutschen Schulsystem umgesetzt werden kann, darum ringen die Bundesländer nunmehr seit einigen Jahren. Die UN-Konvention fordert aber auch die Waldorfpädagogik heraus, Stellung zu beziehen. Durch die angestrebte Verwirklichung des Inklusionsgedankens wird sie auf ihre eigenen Wurzeln verwiesen, da sie ihrem Selbstverständnis nach eine Pädagogik für jedes Kind sein will.

Wege zur Inklusion

An erster Stelle erfordert der Weg zur Inklusion gesamtgesellschaftlich viele Veränderungen. Für die Waldorfschulbewegung steht daneben auch die Rückbesinnung auf ihr pädagogisches Potential. In der Praxis sind bereits einige Schritte sichtbar geworden:

  • In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich bereits mehrere Waldorfschulen mit einem inklusiven Schulkonzept gebildet.
  • Der Bund der Freien Waldorfschulen, der Anthropoi Bundesverband und die Vereinigung der Waldorfkindergärten hatte 2010 den „Arbeitskreis Inklusion“ als beratendes Gremium installiert. Dieser beendete seine Aktivitäten in 2023 (s.u.)
  • Ein von allen Mitgliedsschulen gefördertes Projekt des Bundes der Freien Waldorfschulen bringt seit 2016 interessierte Waldorfschulen zusammen und unterstützt sie bei ihren Bestrebungen, sich für alle Kinder zu öffnen und das gemeinsame Leben und Lernen Praxis werden zu lassen.
  • Es gibt grundständige und berufsbegleitende Aus- und Weiterbildungsangebote zur Inklusionspädagogik für Waldorflehrer, so z.B. in Mannheim, Hamburg, Berlin und Velbert.
  • Der Reader Blickwechsel wirft mit unterschiedlichen Schwerpunkten den Blick auf die Quellen der Waldorfpädagogik und ein zeitgemäßes Leben und Lernen in Waldorfschulen.
  • In einigen Bundesländern (z.B. Schleswig-Holstein und Hessen) sind die Landesarbeitsgemeinschaften eng mit den jeweiligen Bildungsbehörden im Gespräch und/oder bieten ihren Mitgliedern umfassende Unterstützung.
  • Seit 2024, nach Beendigung der Tätigkeit des „AK Inklusion", gibt es beim Bund der Freien Waldorfschulen die Stelle eines Referenten für die Schulentwicklung mit dem Schwerpunkt Inklusion.
     

Nele Auschra

Links und Downloads

Vielfalt-Schule.de: Inklusive Praxis in Waldorfschulen – ein Projekt (nicht nur) für Studierende, initiiert vom Arbeistkreis Inklusion

Inklusion Leben und verstehen

Inklusion leben und verstehen Teil 1 und Teil 2 – ein Online-Weiterbildungsangebot von eLearning Waldorf

Mehr Hilfe für einzelne Schüler:innen